A dragonfly from Würzburg/Germany

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Heute machen wir einen Ausflug nach Würzburg in die Zeit um 1895. Die erste Straßenbahnlinie Würzburgs wird 1892 als Pferdebahn in Betrieb genommen. Mit dem Gesetz betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung erfolgt 1893 die Einführung der Mitteleuropäischen Zeit als einheitliche Uhrzeit für das gesamte Deutsche Kaiserreich. Und Wilhelm Conrad Röntgen entdeckt 1895 in Würzburg die später nach ihm benannten Röntgenstrahlen.

Würzburg Kaiserstrasse 1895 [Quelle: https://wuerzburgwiki.de]

Gute 120 Jahre später bin ich bei einer Online-Auktion über folgende unscheinbare Taschenuhr gestolpert, bei deren Werk die besondere Brückenform, eine eingravierte Libelle sowie eine Patentnummer meine Aufmerksamkeit geweckt haben:

Das Schweizer Patent CH6335 wurde am 25.02.1893 an J. Steinleitner aus Würzburg für ein Verbessertes Uhrwerk erteilt.

Die Zeichnung des Werkes in der Patenschrift sehen dem abgebildeten Werk doch sehr ähnlich:

Wer war dieser J. Steinleitner aus Würzburg? Leider konnte ich in den mir zugänglichen Archiven zunächst nur wenige Informationen finden. Ein erster Hinweis findet sich im Buch Meister der Uhrmacherkunst von Abeler:

Steinleitner & Schott, Würzburg, Inh: C. Steinleitner, Jul. Mech., Jos. Steinleitner (ließ sich am 25.2.1893 das Patent 6335 auf ein verbessertes Uhrwerk erteilen), Fabrikation der Remontoir-Uhr “Libelle” (erw. 1895)

Nach und nach fand ich dann weitere Erwähnungen von Steinleitner & Schott. Zunächst eine Anzeige von 1892, also aus der Zeit vor dem erteilten Patent:

[Quelle: Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 01.04.1892]
Die Firma war also 1872 gegründet wurden.

Dann die Veröffentlichung des Patentes im Schweizerischen Handelsamtsblatt:

[Quelle: Schweizerisches Handelsamtsblatt 08.06.1893]
1894 erfolgte die Registrierung der Marke Libelle durch Steinleitner und Schott:

[Quelle: Schweizerisches Handelsamtsblatt 24.05.1884]
Zwanzig Jahre später wurde die Marke dann wieder gelöscht:

[Quelle: Schweizerisches Handelsamtsblatt 05.12.1914]
Eine Anzeige von 1894, in der die Firma als Vertreter für Schweizer Uhren der Marke Bachschmid aufgeführt ist:

[Quelle: Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 15.09.1894]
Und 1895 tatsächlich eine Werbung für die Taschenuhr der Marke Libelle:

[Quelle: Deutsche Uhrmacherzeitung 15.06.1895]
Auf das Werk wurde also nicht nur das Schweizer Patent CH 6335 angmeldet, sondern im Deutschen Reich auch ein Gebrauchsmuster (D.R.G.M.) Nummer 12073. Das Gebrauchsmuster ist so etwas wie der kleine Bruder eines Patentes. Es scheint auch keine weiteren Patente von J. Steinleitner zu geben.

Neben Uhren wurde offensichtlich auch mit Furnituren (Uhrenteile), Werkzeugen und Schmuck gehandelt:

1908 wurde dann der Bereich Furnituren an den langjährigen Mitarbeiter Emil Schlientz abgegeben:

[Quelle: Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 01.08.1908]
Im Uhrmacher-Adressbuch von 1925 wird Steinleiter und Schott als Uhrengroßhandel aufgeführt:

[Quelle: Uhrmacher Adressbuch 1925]
Und auch 1943 ist die Firma noch im Uhrengroßhandel tätig:

[Quelle: Westdeutsche Uhrmacher-Woche 13.02.1943]
Die Adressen wechseln immer mal wieder, es scheint also einige Umzüge innerhalb Würzburgs gegeben zu haben:

[Quelle: Deutsche Uhrmacher-Zeitung 09.07.1938]
  • Domerschulgasse 5 (ab 1945 Domerschulstraße 5; Domschulstraße ist ein Schreibfehler) (erwähnt 1893 und 1925)
  • Bahnhofstraße 5 – 7 (Zeitpunkt unbekannt, vermutlich vor/um 1908)
  • Dominikanerstraße 10 (Zeitpunkt unbekannt, vor Bahnhofstraße 1/2)
  • Bahnhofstraße 1 /2 (erwähnt 1938, 1943)
  • Kaiserplatz 1 (Zeitpunkt unbekannt, Quelle: Lexikon der deutschen Uhrenindustrie 1850 – 1980)
  • Zeller Straße 43 (Zeitpunkt unbekannt, Quelle: firmenlexikon.de)

Möglicherweise hatte die Firma für die unterschiedlichen Geschäftsbereiche auch mehrere Adressen zu selben Zeit.

Tatsächliche existierte Steinleitner & Schott bis Anfang der 2000er-Jahre. 2001 ging sie in die Insolvenz und wurde dann 2002 gelöscht:

[Quelle: www.moneyhouse.de]
Über Josef Steinleitner als Mensch konnte ich leider fast keine Informationen finden. Lediglich die, dass er 1926 aus dem Unternehmen ausgeschieden ist:

[Quelle: Die Uhrmacherkunst 23.07.1926]
Hat Steinleitner die Werke mit der Bezeichnung Libelle selbst gebaut? Möglich, ich vermute aber, dass er sie in der Schweiz hat bauen lassen und sie nach Deutschland importiert hat. Die Schweizer Silberpunzen im Deckel einer der zwei mir vorliegenden Taschenuhren sowie die Patentanmeldung in der Schweiz sprechen zumindest dafür. Einen kleinen Hinweis könnte eine Ergänzung zur Patentanmeldung liefern, die 1894 im Schweizerischen Handelsamtsblatt veröffentlicht wurde:

[Quelle: Schweizerisches Handelsamtsblatt 08.01.1894]
P. Clémençon & Co. aus Courroux in der Schweiz hat also eine Lizenz auf das Patent CH6335 erhalten. Es gab um 1900 einen Charles-Auguste Clémençon in Courroux, der Uhrmacher war. P. Clémençon war vielleicht ein naher Verwandter. Mehr konnte ich darüber nicht in Erfahrung bringen. Möglicherweise hat P. Clémençon die Werke zusammengebaut und in Gehäuse eingebaut.

Schauen wir uns das Werk noch etwas genauer an. Es hat einen Durchmesser von 18 1/2”’ (= 41,9 mm), eine Höhe von 6,9 mm, eine für die damalige Zeit typische Zylinderhemmung, 10 Steine und einen Kupplungsaufzug mit Drücker. Soweit also ein klassischer Vertreter seiner Ära.

Etwas später konnte ich ein zweites Libelle-Werk erwerben, dass mit 18 1/4”’ (41,0 mm) minimal kleiner als das erste Werk ist. Es hat nur 6 Steine und weist ein paar kleine konstruktive Abweichungen zum ersten Werk auf:

Möglicherweise ist dieses zweite Werk etwas älter als das erste.

Um was genau geht es nun in der Patentschrift?

Am Ende der Patentschrift sind sieben Patentansprüche aufgeführt:
Ein Uhrwerk, gekennzeichnet durch:

1. Die eigenartige Form des Mittelsteges D
Mit Mittelsteg ist hier die Räderwerkbrücke gemeint. Komisch, dass man alleine auf die Form einen Patentanspruch stellen konnte.

2. Den aus zwei übereinandergreifenden Teilen E und F bestehenden Federhaussteg
Normalerweise umfasst die Federhausbrücke sowohl das Kronrad als auch das Sperrrad. Hier besteht die Brücke aber aus zwei Teilen, damit die Feder im Federhaus bei Bedarf einfacher gewechselt werden kann. Keine Revolution im Werkebau, aber ganz praktisch.

3. Den mit Stiel g und Kerbe g1 versehenen Sperrkegel G
4. Die zur Einstellung des Sperrkegels G in einem Loche f1 des Steges F seitlich eingreifende Feder H
Die Punkte 3 und 4 gehören zusammen und beschreiben eine Variante der Klinke – so sagt man heute zum Sperrkegel – und der Klinkenfeder. Die Klinke wird nicht festgeschraubt, sondern einfach gesteckt. Gehalten wird sie von einer seitlich befestigten Feder, die gleichzeitig als Klinkenfeder wirkt, also dafür sorgt, dass die Klinke in Richtung Sperrrad gedrückt wird. Dreht man die Klinke manuell weit genug zurück, greift die Feder nicht mehr in die Kerbe der Klinke. Die Klinke kann dann ganz einfach nach oben entnommen werden. Eine wirklich nützliche Erfindung!

5. Das wie beschrieben geformte und befestigte Coqueret K
Das Coqueret ist die Deckplatte am Unruhkloben, auch Rückerplättchen genannt. Das Patent beschreibt die abgebildete Form dieser Deckplatte, die dazu dient, den Rücker (J) mit Hilfe der Platte mit nur einer Schraube am Unruhkloben (L) zu befestigen. Diese Konstruktion erleichtert bei einem Bruch des Decksteins die Reparatur, da Unruh und Spirale dazu nicht entfernt werden müssen.

Eine hübsche Idee, aber leider wurde dieser Teil des Patentes beim beiden oben gezeigten Werken nicht umgesetzt.

6. Den in Fig. 2 dargestellten Steg A
Hier ist die Form der Wechselradbrücke gemeint. Damals wurden viele Werke ohne Wechselradbrücke produziert, sodass das Wechselrad nicht befestigt war. Was an der hier gezeigten Wechselradbrücke aber so besonders sein soll, ist mir nicht klar. Die Form der Wechselradbrücke ist bei beiden gezeigten Werken auch etwas anders als die in der Patentschrift gezeigte.

7. Den in Fig. 3 dargestellten Steg B
Dieser sorgt einfach dafür, dass die Aufzugswelle festgehalten wird. Eine damals typische Konstruktion, heute würde man dafür einen Winkelhebel verwenden. Auch hier ist mir ist nicht klar, was an dieser Variante besonders sein soll, zumal die Patentschrift in keiner Weise darauf eingeht. Beim gezeigten Werk sieht diese Befestigung allerdings anders aus als in der Patentschrift abgebildet.

Sehr erfolgreich scheint der Vertrieb des Werkes der Marke Libelle bzw. der zugehörigen Uhren nicht gewesen sein. Mir sind bisher lediglich drei Exemplare davon begegnet, zwei davon befinden sich mittlerweile bei mir. Bei keinem davon trägt das Zifferblatt eine Aufschrift.

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