Um die genannten Begriffe verstehen zu können, schauen wir uns nochmal die Grundlagen der Funktionsweise eines mechanisches Uhrwerkes an, die ich detaillierter im Artikel Wie funktioniert ein mechanisches Uhrwerk? Teil 1 – Theorie beschrieben habe:
Die im Federhaus aufgezogene Feder treibt das Räderwerk bestehend aus Minutenrad, Kleinbodenrad und Sekundenrad an (von links nach rechts im Bild). Es schließen sich das Ankerrad, der Anker und die Unruh an, die dazu dienen, dass sich die im Federhaus gespeicherte Energie nicht schlagartig entlädt, sondern in einem exakten Takt, der dazu führt, dass sich das Sekundenrad mit dem aufgesteckten Sekundenzeiger in 60 Sekunden einmal im Kreis dreht und das Minutenrad mit dem Minutenzeiger dies in 60 Minuten tut.
Wir haben hier also im Räderwerk einen Kraftfluss, bei dem jedes angetriebene Rad wiederum Energie an das nachfolgende Rad weitergibt. Und schon kommen wir zum ersten oben genannten Begriff, der direkten Sekunde: befindet sich das Rad, auf dem der Sekundenzeiger aufgesteckt ist, im eben dargestellten „direkten“ Kraftfluss, spricht man von einer direkten Sekunde. Wir werden gleich noch sehen, dass es zwar immer ein Sekundenrad im direkten Kraftfluss gibt, dieses aber nicht notwendigerweise den Sekundenzeiger trägt!
So sieht das dann in der Praxis bei einem Uhrwerk aus, hier dem bekannten ETA/Unitas 6498 (Kraftfluss = grüne Linie):
Wir sind es gewohnt, dass sich Minuten- und Stundenzeiger im Zentrum des Zifferblattes befinden. Mit einem Blick auf das Räderwerk besteht die einfachste Lösung zur Positionierung des Sekundenrades also darin, dieses nicht in der Mitte, sondern dezentral unterzubringen. Meist entweder bei 6 Uhr oder 9 Uhr auf dem Zifferblatt. Diese Positionierung führt dazu, dass die Länge des Sekundenzeigers wesentlich kleiner sein muss als ein Zeiger in der Mitte. Wir haben hier also eine dezentrale kleine Sekunde, genauer eine direkte dezentrale kleine Sekunde. Eine kleine Sekunde ist eigentlich immer dezentral, aber nicht zwingend im direkten Kraftfluss!
Der Wunsch nach einem zentralen Sekundenzeiger in der Mitte des Zifferblattes ist natürlich naheliegend. Die einfachste technische Lösung dafür ergibt sich beim Versuch, das bestehende Räderwerk eines bestehenden Uhrwerkes nur zu ergänzen und die Positionen der vorhandenen Räder nicht zu ändern! Der erste Schritt besteht darin, die Achse des zentralen Minutenrades zu durchbohren und ein Trieb mit einer Achse durchzustecken, die den Sekundenzeiger im Zentrum tragen wird:
Jetzt muss das Trieb nur noch irgendwie angetrieben werden. Welches Rad des Räderwerkes liegt nahe am Minutenrad und treibt das vorhandene direkte Sekundenrad an? Richtig, des Kleinbodenrad! Verlängern wir also die Achse des Kleinbodenrades nach hinten und setzen darauf ein weiteres Rad, das das neue Sekundentrieb antreibt:
So sieht das dann z. B. bei einem alten französischen Taschenuhrwerk aus der Zeit um 1910 aus:
Blau markiert ist das neue Rad, das auf der Achse des darunterliegenden Kleinbodenrades aufgesteckt ist. Das Sekundentrieb in der Mitte sowie das Loch im Minutenrohr sieht man erst, wenn man die kleine Abdeckung im Zentrum entfernt:
So sieht das Zifferblatt dann von vorne aus:
Wir haben hier also eine zentrale Sekunde geschaffen, und zwar eine indirekte zentrale Sekunde. Warum indirekt? Weil das Sekundentrieb im Zentrum nicht direkt im Kraftfluss vom Federhaus zum Ankerrad liegt, sondern indirekt vom Kleinbodenrad angetrieben wird. Es gibt also einen Nebenkraftfluss vom Kleinbodenrad zum Sekundentrieb, der aber dort endet und nicht weitergeht. Hier nochmal im Bild: grün der direkte Kraftfluss, blau der indirekte:
Da der indirekte Kraftfluss beim zentralen Sekundentrieb endet, neigt der Sekundenzeiger aufgrund des Spiels zwischen Zahnrad und Trieb bei leichten Bewegungen dazu, zu stottern oder scheinbar etwas zu hüpfen. Das ist unschön, hat aber keinen Einfluss auf die Ganggenauigkeit des Werkes! Man versucht dem entgegenzuwirken, indem man eine Friktionsfeder am Sekundentrieb anbringt, die dieses etwas nach oben oder unten drückt, ohne es nennenswert zu bremsen. Im Bild weiter oben ist die Friktionsfeder im Zentrum zu sehen. Ihre Befestigung läuft unter dem Antriebsrad des Sekundentriebs hindurch. Ein berüchtigtes Werk, das häufig den beschriebenen Stottereffekt einer indirekten Zentralsekunde zeigt, ist das japanische Miyota 8215 und dessen chinesische Klone.
Hier noch ein Werk mit indirekter Zentralsekunde, bei dem man die Friktionsfeder gut sehen kann, ein Rolex 1220:
Zusammengefasst die Merkmale einer indirekten Zentralsekunde:
- Der Sekundenzeiger befindet sich im Zentrum des Zifferblattes
- Das Sekundentrieb liegt nicht im direkten Kraftfluss des Räderwerkes, sondern wird indirekt angetrieben, meist über das Kleinbodenrad
- Das direkte, dezentrale Sekundenrad existiert nach wie vor, trägt aber keinen Sekundenzeiger
- Eine Friktionsfeder minimiert den Stottereffekt bei Bewegungen, der durch das Zahnspiel entsteht
Von der indirekten Zentralsekunde kommen wir nun zur direkten Zentralsekunde. Um diese zu realisieren, muss das Räderwerk so konstruiert werden, dass das Sekundenrad im Zentrum im direkten Kraftfluss des Werkes liegt.
Als Beispiel schauen wir uns ein Certina 25-65 aus einer Certina blue ribbon an:
Der Kraftfluss (grün) läuft vom Federhaus (FH) zum Minutenrad (hier nicht sichtbar, daher gestrichelte grüne Linie), von dort zum Kleinbodenrad (K) und über das zentrale Sekundenrad (S) zum Ankerrad (A). Das zentrale Sekundenrad liegt also offensichtlich im direkten Kraftfluss, wir haben hier also eine direkte Zentralsekunde. Und wo steckt das Minutenrad (M)? Eine Etage tiefer, unter einer Minutenradbrücke! Diese ist nötig, um sowohl das Minutenrad als auch das Sekundenrad im Zentrum unterbringen zu können.
Das vielleicht bekannteste Uhrwerk, das ETA 2824-2, wartet mit einer etwas anderen Lösung auf, um eine direkte Zentralsekunde zu realisieren. Der Kraftfluss (grün) läuft hier wie folgt: Federhaus (FH) -> Großbodenrad (G) -> Kleinbodenrad (K) -> Sekundenrad (S) -> Ankerrad (A)
Im Kraftfluss befindet sich hier kein Minutenrad, sondern stattdessen das Großbodenrad. Dieses ist also ein dezentrales Minutenrad, das keinen Minutenzeiger trägt! Welches Rad trägt dann hier den Minutenzeiger? Ganz einfach: das ETA 2824-2 hat ein indirektes Minutenrad auf der Zifferblattseite. Angetrieben wird es von einem Trieb auf der Unterseite des Großbodenrades. Minutenrad und Trieb sind im folgenden Bild blau markiert.
Beim ETA 2824-2 wurde also die direkte Minute zugunsten einer direkten Sekunde geopfert und durch eine indirekte Minute ersetzt.
Und dann gibt es noch ein paar exotische Werke, die sowohl eine direkte Zentralsekunde als auch eine indirekte kleine Sekunde ermöglichen. Zum Beispiel das russische Poljot 2614.02. Der grüne Kreis im folgenden Bild markiert das Trieb für die kleine Sekunde. Auf der links abgebildeten Räderwerkbrücke erkennt man die Friktionsfeder für das Sekundentrieb.
Ein Blick auf die zugehörige Uhr, eine Buran, offenbart aber nur eine kleine Sekunde. Wo ist die Zentralsekunde?
Im Bohrloch des zentralen Minutenrades ist der Zapfen des zentralen Sekundenrades zu sehen. Es wurde einfach kein Zeiger aufgesteckt.
Und hier noch ein chinesisches Liaoning Peacock SL-6601 mit indirekter kleiner Sekunde, aber ohne Zentralsekunde:
Der Kraftfluss vom Federhaus zum Ankerrad ist wieder grün markiert. Blau umrandet ist das Sekundentrieb für die kleine Sekunde, das vom Kleinbodenrad angetrieben wird. S kennzeichnet das Sekundenrad im direkten Kraftfluss, das keinen Sekundenzeiger trägt, da dieser auf dem Zifferblatt an einer unerwünschten Stelle positioniert wäre. Auf der links abgebildeten Brücke sieht man wieder eine kleine Friktionsfeder. Und hier im Detail:
Ach ja, dann gibt es natürlich auch noch Werke, die zwar einen zentralen Sekundenzeiger aufweisen, der aber nichts mit dem Gehwerk der Uhr zu tun hat, also mit der eigentlichen Zeitanzeige: Chronographen, deren Zeiger für die Stoppsekunde meist im Zentrum sitzt. Das Bild ganz oben zeigt einen solchen Chronographen mit einem Valjoux 7758, das bei 9 Uhr eine kleine Sekunde hat!
Von den ganz zu Beginn dieses Artikels genannten Begriffen fehlt uns nun nur noch einer, nämlich den der schleichenden Sekunde. Was genau schleicht da oder auch nicht? Im Deutschen wird der Begriff als Gegensatz zur springenden Sekunde benutzt. Die springende Sekunde springt jede Sekunde um eine Position weiter, die schleichende Sekunde bewegt sich kontinuierlich von einem Sekundenstrich zum nächsten. Die meisten Quarzwerke haben eine springende Sekunde, bei mechanischen Werken ist deren Realisierung große Uhrmacherkunst und entsprechend aufwendig sowie teuer! Die springende Sekunde wird übrigens auch tote Sekunde oder Französisch Seconde morte genannt.
Etwas verwirrend wird es im englischen Sprachgebrauch. Der Begriff Sweep Second steht nicht für eine schleichende Sekunde, sondern wird allgemein für die Zentralsekunde benutzt, also als Gegensatz zur kleinen Sekunde (sub-second oder small second). Der Begriff kommt vermutlich daher, dass der zentrale Sekundenzeiger über das ganze Zifferblatt „wischt“.
Schauen wir uns zum Schluss noch an, wie das Schleichen des Sekundenzeigers vor sich geht. Bei jeder Halbschwingung der Unruh sorgt der Anker dafür, dass das Ankerrad einen einzigen Zahn weiterläuft und dann kurz stehen bleibt. Entsprechend bewegt sich auch das Sekundenrad ein kleines Stückchen weiter.
Die Unruh eines klassischen Uhrwerks hat 18.000 Halbschwingungen pro Stunde, also 5 pro Sekunde. Der Sekundenzeiger „schleicht“ also mit 5 Schritten pro Sekunde voran. Auf dem folgenden Video der bereits oben vorgestellten Taschenuhr kann man das schön beobachten:
Ein ETA 2824-2 hat 28.000 Halbschwingungen pro Stunde, also 8 pro Sekunde. Bei einer kleinen Sekunde nimmt das Auge sowohl 5 als auch 8 Schritte pro Sekunde weitgehend als gleichmäßige Bewegung war, bei einer Zentralsekunde kann man den Unterschied schon sehen! Ein elektrisch gesteuertes Stimmgabelwerk wie das ESA 9162 schafft 300 Schritte pro Sekunde. Da sieht unser Auge auf jeden Fall eine gleichmäßige Bewegung und keine einzelnen Schritte mehr.
Diese – sehr gute! – Seite habe ich gefunden, weil ich auf der Suche nach einer Erklärung bin: Bei allaboutwatches.de wird eine A. Lange & Söhne Taschenuhr von 1884 gezeigt, die eine zentrale UND eine dezentrale Sekunde (auf der „6“) hat. WOZU? Warum hat eine Uhr zwei Sekundenzeiger?
Kannst du mir diese Frage beantworten?
Besten Dank im Voraus und mit freundlichen Grüßen
Alf aus Mannheim
Hallo Alf,
die kleine Sekunde ist die normale Sekunde einer Taschenuhr, die zentrale Sekunde eine Seconde morte, also eine springende Sekunde. Dort wird ja beschrieben, dass es sich um ein Einzelstück handelt. Da hat Lange also vermutlich ein normales Taschenuhrwerk genommen und die Sekunde morte nachträglich dazu gebaut. Und dabei die vorhandene kleine Sekunde einfach belassen.
Hallo Andreas!
Zurzeit versuche ich ein 2824-02 zu verstehen und war auf der Suche nach dem Antrieb für den Minutenzeiger. Dank Deiner sehr guten Erklärungen nun gefunden.
Peter
Sehr verständliche Beschreibung!
Danke!
Super detaillierte Erklärung.
Danke dafür ! Jetzt verstehe ich es auch. Besonders haben mir die Bilder weitergeholfen.