Honestus: Taschenuhr mit sichtbarer Unruh

Uhren, bei denen die schwingende Unruh im Zifferblatt sichtbar ist, sind keine Erscheinung der Neuzeit. Bei Taschenuhren gab es dies bereits vor mehr als 120 Jahren. Exemplarisch stelle ich hier eine Taschenuhr der Marke Honestus vor, da deren Geschichte durchaus interessant ist.

Im Mai 1898 erhielt Ernest Degoumois aus St. Imier das Schweizer Patent CH16598 mit dem Titel Montre de hauteur minime, avec balancier visible (Uhr mit minimaler Höhe und sichtbarer Unruh). Die dort gezeigte Uhr hat aber optisch nur bedingt etwas mit der oben gezeigten zu tun!

Ausschnitt aus dem Schweizer Patent CH16598

Genau diese Schweizer Patentnummer ist aber der Brückenseite des Werkes der Honestus-punziert:

Zusammen mit der Nummer des deutschen Patentes DE140330. Die 33 ist bei meinem Exemplar leider nicht lesbar, bei anderen Exemplaren dagegen schon. Dieses Patent von 1902 ist aber nicht auf Ernest Degoumois ausgestellt, sondern auf Jean Kullmer Fils aus La Chaux-de-Fonds in der Schweiz. Es trägt den Titel Taschenuhr mit sichtbarer Unruhe.

Ausschnitt aus dem deutschen Patent DE140330

Dieses Patent verweist im ersten Absatz auf ein zugrundeliegendes Schweizer Patent CH22532 von 1901 mit dem Titel Perfectionnement aux montres à balancier visible (Verbesserung an Uhren mit sichtbarer Unruh). Auch dieses ist auf Jean Kullmer ausgestellt.

Ausschnitt aus dem deutschen Patent DE140330
Excerpt from the German patent DE140330

Beide Patente von Kullmer beschreiben die hier gezeigte Uhr und deren Werk. Das Besondere ist die Unruh, die bei Bedarf ohne Entfernen der Zeiger und des Zifferblattes entnommen werden kann.

Werk der oben gezeigten Honestus-Uhr

Kullmer bewarb seine Uhr der Marke Honestus auch fleißig, z. B. 1902 in La Fédération Horlogère Suisse:

Werbung von Kullmer für Taschenuhren der Marke Honestus, La Fédération Horlogère Suisse 1902

Die Marke Honestus ließ sich Kullmer bereits im September 1901 unter der Nummer 13855 im Schweizerischen Handelsamtsblatt eintragen:

Registrierung der Marke Honestus im Schweizerischen Handelsamtsblatt, 03.09.1901

Was hatten also Degoumois und Kullmer miteinander zu tun?
Zunächst offensichtlich nichts Erfreuliches! Mit Datum vom 09.01.1903 gab Kullmer im Schweizerischen Handelsamtsblatt nämlich folgende Erklärung ab:

Erklärung.
Infolge des Fälschungsprozesses, der von Herrn Ernest Degoumois, Uhrenfabrikant in St-Imier, gegen mich angestrengt wurde, bringe ich, J. Kullmer fils, Uhrenfabrikant in La Chaux-de-Fonds, den Beteiligten zur Kenntnis, dass ich von ihm eine Lizenz für sein Patent Nr. 16,598 kaufen und bezahlen musste, um die Herstellung der Uhr „Honestus“, extraflach, mit sichtbarer Unruh, fortsetzen zu können.
Nach dieser Vereinbarung werden die beiden oben genannten Firmen jeden Nachahmer des Patents Nr. 16,598 verklagen.

Folgerichtig drohte auch Kullmer ab 1903 in seinen Anzeigen, rechtlich gegen den Missbrauch seiner Marke Honestus vorzugehen:

Werbung von Kullmer für Taschenuhren der Marke Honestus, La Fédération Horlogère Suisse 1903

Diese Werbung ist auch aus einem anderen Grund interessant. Sie zeigt im Gegensatz zur älteren Werbung vier verschiedene Varianten der Honestus-Uhr mit sichtbarer Unruh:

  • Eine Variante mit der Werkhöhe 5,36 mm (oben links)
  • Eine Variante mit der Werkhöhe 4,20 mm (oben rechts)
  • Eine Variante mit Zentralsekunde (unten links)
  • Eine Variante bei der die Unruh im rechten Winkel zur Aufzugswelle steht (unten rechts). Es gibt also zwei Ausführungen des Uhrwerkes. Mehr dazu gleich…

1904 taucht in Anzeigen plötzlich eine neuer Anbieter auf, der Uhren der Marke Honestus und Nectar bewirbt, die Firma Breguet & Cie aus La Chaux-de-Fonds:

Anzeige von Breguet & Cie im Journal Suisse d’Horlogerie, April 1904
Anzeige von Breguet & Cie im Journal Illustré des Stations du Valais, 1904

Handelt es sich um ein Plagiat? Oder hat Kullmer etwa die Marke verkauft und Breguet ebenfalls eine Lizenz von Degoumois erworben? Einen Hinweis gibt, wie so oft, ein Eintrag im Schweizerischen Handelsamtsblatt:

Léon Breguet und Jean Kullmer haben also zum 05.10.1903 gemeinsam die Firma Breguet & Cie gegründet. Dass im Firmenname nur Breguet auftaucht, könnte darauf hindeuten, dass Kullmer wirtschaftlich in Schwierigkeiten geraten war und daher diese Partnerschaft eingehen musste. Die neue Firma wurde allerdings bereits zum 05.10.1906 unter der Leitung von Jean Kullmer wieder liquidiert.

Die Geschichte der Marke Honestus hätten wir also geklärt. Aber wer hat die Uhrwerke hergestellt? Es war weder Degoumois noch Kullmer noch Breguet, sondern Charles Hahn!

Charles Hahn hat das oben gezeigte Uhrwerk am 29.11.1901 im Schweizerischen Handelsamtsblatt als Modell Nr. 4 registriert. Modell Nr. 4 ist keine offizielle Kaliberbezeichnung, sondern diente der Registrierung der Bauform.

Registrierung von Charles Hahn im Schweizerischen Handelsamtsblatt 1901

Am 24.11.1902 folgte die Registrierung eines Werkmodells Nr. 2 durch Charles Hahn. Auf den ersten Blick sieht es identisch aus wie das 1901 registrierte Modell Nr. 4. Auf den zweiten Blick dagegen eher wie ein Spiegelbild des Modells Nr. 4!

Registrierung von Charles Hahn im Schweizerischen Handelsamtsblatt 1902
Registration of Charles Hahn in the Swiss Official Gazette of Commerce 1902

Das Modell Nr. 4 von 1901 ist die Savonnette-Variante des Werkes. Bei einer klassischen Taschenuhr bezeichnet dies ein Werk, bei dem die Aufzugswelle und die kleine Sekunde in einem Winkel von 90 Grad zueinander liegen. Die oben gezeigte Uhr hat zwar keine kleine Sekunde, aber ein Sekundenrad, das an der entsprechenden Stelle liegt!

Das Modell Nr. 2 von 1902 ist die Lépine-Variante des Werkes. Hier liegen die Aufzugswelle und die kleine Sekunde auf einer geraden Linie.
Mehr Infos zum Thema Lépine und Savonnette findest du hier: Kaliber und Linien – was ist das denn?

Da bei den Honestus-Uhren die sichtbare Unruh die typische Position der kleinen Sekunde einnimmt, sieht die Lépine-Variante auf den ersten Blick aus wie eine Savonnette und umgekehrt!

Zum Schluss noch ein kleines Video der laufenden Taschenuhr:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert