Wozu dienen also Steine im Uhrwerk, welche Varianten gibt es und an welchen Stellen können sie wirklich zur Qualität des Werkes beitragen? Im Deutschen verwendet man den Begriff Steine, der englische Begriff Jewels und der französische Ausdruck Rubis machen eher klar, dass es hier um Edelsteine geht, konkret Rubine.
Bereits um 1700 gelang es dem Schweizer Nicolas Fatio de Duillier und dem Franzosen Pierre und Jacob De Baufré (auch: Debaufre), natürliche Rubine zu durchbohren und diese so als Lagersteine zu verwenden. 1704 bekamen sie dafür das englische Patent Nr. 371, das ihnen 14 Jahre lang die alleinige Nutzung dieses Verfahrens in England sicherte [Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Nicolas_Fatio_de_Duillier]. Heutzutage benutzt man natürlich synthetische Rubine.
- Lagersteine, auch Lochsteine genannt
- Decksteine
- Andere funktionale Steine
- Dekosteine (nicht-funktional)
Lagersteine
Sie dienen der Gleitlagerung der Zapfen von Rädern oder von anderen sich drehenden bzw. bewegenden Teilen. Räder von Uhrwerken haben an beiden Enden jeweils einen Zapfen, der in der Werkplatine oben bzw. unten gelagert werden muss. Durchbohrte Edelsteine reduzieren die Reibung dieser Lager im Vergleich zu einem Metall-Lager. Damit reduzieren sie den Verschleiß, dies wiederum erhöht die Gangdauer und auch die Genauigkeit der Uhr.
Das nächste Bild zeigt fünf Lagersteine auf der Brückenseite eines Werkes. Im Uhrzeigersinn von links unten nach rechts oben: Anker (kleiner Stein), Ankerrad, Sekundenrad, Kleinbodenrad, Minutenrad. Fünf weitere Steine für diese Räder befinden sich auf der Zifferblattseite des Werkes.Decksteine
Decksteine werden auf Lagersteine aufgesetzt, decken diese also ab. Sie haben eine zweifache Funktion. Zum einen verbessern sie die Ölhaltung, da das Öl gewissermaßen zwischen Deckstein und Lagerstein eingeschlossen und so an Ort und Stelle gehalten wird. Im folgenden Bild ist das Öl gelb dargestellt.
Zum anderen reduzieren sie die Reibung in den Lagen „Zifferblatt oben“ bzw. „Zifferblatt unten“. In diesen Lagen liegt der Zapfen des gelagerten Rades ohne Deckstein mit seiner Schulter auf dem ganzen Umfang des Lagersteines auf. Mit Deckstein liegt nur das abgerundete Ende des Zapfens auf der Fläche des Decksteins auf. Decksteine werden sinnvollerweise paarweise eingesetzt, also jeweils oben und unten.Ein qualitativ halbwegs akzeptables Uhrwerk hat zumindest zwei Decksteine auf den Zapfen der Unruhwelle, da die Unruh das empfindlichste und am schnellsten bewegte Teil des Werkes ist. Das Vorhandensein von Decksteinen an dieser Stelle ist übrigens unabhängig davon, ob das Werk eine Stoßsicherung hat oder nicht. Bei alten Werken ohne Stoßsicherung kommt es häufig vor, dass bei einem harten Stoß ein Zapfen der Unruhwelle bricht. Nur ganz selten findet man einen ausgeschlagenen Deckstein. Der Deckstein ist also stabiler als der Zapfen!
Leider gibt es auch Decksteine, die nicht-funktional bzw. nur teil-funktional sind. Bei diesen reichen die Enden der Lagerzapfen gar nicht bis an die Decksteine heran, sodass keine weitere Reduktion der Reibung stattfindet. Im besten Fall verbessern sie lediglich die Ölhaltung.
Andere funktionale Steine
Es gibt eine Reihe weiterer Steine, die der Reduktion der Reibung dienen, also eine echte Funktion erfüllen, aber keine Lager- oder Decksteine sind. Dazu gehören insbesondere die zwei Ankerpaletten einer Steinankerhemmung sowie die Ellipse der Unruh. Aber auch als Wälzlager werden sie gelegentlich eingesetzt, etwa als Kugellager eines Automatik-Rotors.
Dekosteine (nicht-funktional)
Diese erfüllen keinerlei technische Funktion, sondern dienen nur der Dekoration. Da man sie praktisch an beliebiger Stelle im Werk unterbringen kann, kann man damit die auf dem Zifferblatt angegebene Anzahl Steine beliebig nach oben treiben. Für Marketingzwecke großartig, technisch aber völlig überflüssig! Für die Funktionsweise des Uhrwerkes sind also nur die funktionalen Steine relevant.
Es gibt auch Grenzfälle, bei denen man sich streiten kann, ob die Steine funktional oder nicht funktional sind. Das nächste Bild zeigt eine steingelagerte Datumraste eines HB 313. Ob dieser Lagerstein bei einer nur einmal täglich minimal bewegten Datumraste die Reibung nennenswert reduziert, darf man durchaus bezweifeln.
Kraftfluss und Drehgeschwindigkeiten
Bei den folgenden Betrachungen schauen wir uns ein Werk mit Schweizer Steinankerhemmung, Handaufzug und einer kleinen Sekunde an. Und wir erinnern uns an den Kraftfluss in einem klassischen Räderwerk:
Federhaus -> zentrales Minutenrad -> Kleinbodenrad -> Sekundenrad -> Ankerrad -> Anker -> Unruh |
In dieser Reihenfolge nehmen die Drehgeschwindigkeit der Achsen und die damit verbundenen Reibungsverluste immer mehr zu. Es macht also Sinn, die schneller bewegten Teile bevorzugt mit Steinlagern zu versehen.
Ein einfaches Steinankerwerkes hat 7 Steine
Wie viele funktionale Steine sollte so ein Werk also minimal haben? Zwei Ankersteine, eine Ellipse sowie zwei Lagersteine und zwei Decksteine für die Unruhwelle (jeweils einen oben bzw. unten) macht in Summe 7 Steine.
Bei einer Stiftankerhemmung bestehen die „Ankersteine“ und die Ellipse meist aus Metallstiften, sodass hier die Minimalausstattung aus 4 Steinen an der Unruhwelle besteht. Lässt man diese aus Kostengründen auch noch weg, kann man auch Werke mit 0 Steinen bauen. Auch Werke mit einem Stein gibt es. Dies ist dann meist ein nicht-funktionaler brückenseitiger Deckstein auf der Unruhwelle.
Ein gutes Steinankerwerk hat 15 oder 17 Steine
Wir bleiben bei der Schweizer Ankerhemmung mit Handaufzug. Sehr viele dieser Werke haben 15 Steine und zwar an folgenden Stellen:
- 2 Ankerpaletten
- 1 Ellipse
- 2 Lagersteine Unruhwelle (oben, unten)
- 2 Decksteine Unruhwelle (oben, unten)
- 2 Lagersteine Anker (oben, unten)
- 2 Lagersteine Ankerrad (oben, unten)
- 2 Lagersteine Sekundenrad (oben, unten)
- 2 Lagersteine Kleinbodenrad (oben, unten)
Das Minutenrad und das Federhaus bekommen häufig keine Steine, da sie sich relativ langsam drehen. Stattet man das Minutenrad auch mit Steinlagern aus, kommt man in Summe auf 17 statt 15 Steine.
Schauen wir uns das Basiswerk ETA 2804-2 des berühmten ETA 2824-2 an. Das Basiswerk mit Handaufzug hat nur 17 Steine, da es keine Automatikeinheit hat (zu der kommen wir weiter unten). Im Gegensatz zum gerade beschriebenen klassischen Räderwerk ist das Räderwerk hier ein wenig anders aufgebaut. Dieses Werk hat eine indirekt angetriebene Minute. Die Rolle des „Minutenrades“ im Kraftfluss übernimmt hier das dezentrale Großbodenrad. Außerdem hat das Werk keine kleine Sekunde, sondern eine direkt angetriebene zentrale Sekunde. Diese wiederum hat nur brückenseitig ein Steinlager. Das wären dann in Summe 16 Steine. Stein Nummer 17 ist ein zifferblattseitiges Lager des Federhauses.
Nochmals zusammengefasst die 17 Steine des ETA 2804-2:
- 2 Ankerpaletten
- 1 Ellipse
- 2 Lagersteine Unruhwelle (oben, unten)
- 2 Decksteine Unruhwelle (oben, unten)
- 2 Lagersteine Anker (oben, unten)
- 2 Lagersteine Ankerrad (oben, unten)
- 1 Lagersteine Sekundenrad (brückenseitig)
- 2 Lagersteine Kleinbodenrad (oben, unten)
- 2 Lagersteine Großbodenrad (oben, unten)
- 1 Lagerstein Federhaus (zifferblattseitig)
Nur am Rande: die Datumschaltung des ETA 2804-2 bzw. 2824-2 enthält keinen einzigen Stein.
Das ETA 2824-2 Automatikwerk mit 25 Steinen
Das Basiswerk des 2824-2 hat also 17 Steine, wie wir gerade festgestellt haben. Also muss die Automatikeinheit weitere 8 Steine beherbergen.
Im linken Teil des nächsten Bildes sind die Räder der Automatik von links nach rechts wie folgt angeordnet:
Erste Klinkenrad -> zweites Klinkenrad -> Reduktionsrad -> Spannrad |
Hier befinden sich also die 8 Steine:
- 4 Lagersteine der zwei Klinkenräder (oben, unten)
- 0 Steine an den Klinkenlagern am ersten Klinkenrad (rot markiert)
- 2 Steine an den Klinkenlagern am zweiten Klinkenrad (grün markiert)
- 2 Lagersteine am Reduktionsrad (oben, unten)
- 0 Lagersteine am Spannrad
Nur eines der zwei Klinkenräder hat also Steine an den Klinkenlagern. Und auch diese erfüllen m. E. nur einen Dekozweck, sie sind also nicht funktional. Das ETA 2824-2 würde also auch mit 23 statt 25 Steinen auskommen! Früher gab es das ETA 2824 übrigens auch mit 17 bzw. 21 Steinen, also mit 0 bzw. 4 Steinen im Automatikmodul.
Nachbauten des ETA 2824-2 mit 26 und 28 Steinen
Nachbauten des ETA 2824-2 haben häufig mehr Steine als das Original. Manchmal verschweigt dies der Hersteller bei der Werkbeschriftung und gibt dort eine geringere Anzahl statt der tatsächlich vorhandenen Steine an.
Auf 26 Steine kommt man, wenn man dem Federhaus nicht nur zifferblattseitig ein Steinlager spendiert, sondern auch auf der Brückenseite. Wenn man dann noch den Lagern der Klinken in beiden Klinkenräder jeweils zwei Steine mitgibt, landet man bei 28.
Hier eine kleine Übersicht:
Werk | ETA 2824-2 |
Sellita SW200-1 |
Valanvron V24 |
Sea-Gull ST2130 |
Hangzhou 6301 |
STP 1-11 |
Steine verbaut | 25 | 26 | 28 | 28 | 28 | 28 |
Steine auf dem Werk angegeben | 25 | 26 | 25 | 26 | 26 | 26 |