Frankreich scheint ein Uhrenland zu sein, in dem es noch etwas zu entdecken gibt. Zumindest begegne ich immer wieder französischen Hersteller von Uhrwerken, die weitgehend unbekannt sind und von denen ich zuvor noch nie gehört habe. Victor Anguenot aus Villers-le-Lac im Département Doubs ist einer davon. Der Ort liegt nur wenige Kilometer von Le Locle entfernt, einem der wichtigsten Zentren der Schweizer Uhrenindustrie.
Die Geschichte von V. Anguenot
François Victor Anguenot wurde am 27.03.1874 in Charquemont geboren, nur ca. 25 km von Villers-le-Lac entfernt. Sein Vater, François Anguenot (1845-1907) soll einer der ältesten Fabrikanten in Villers-le-Lac für Roskopf-Uhren gewesen sein.
Wann genau Anguenot seine Firma gegründet hat, ist nicht ganz klar. Dieselbe Quelle [1] spricht von 1892, zeigt aber auch eine Werbung von 1943, auf der als Gründungsjahr 1900 angegeben ist:
Victor schließt sich 1907 mit seinem Schwager Marcelin Joriot (1870-1956) in einer offenen Handelsgesellschaft zusammen, die der Herstellung und dem Verkauf von Uhren dient. Diese Verbindung wird später mit Marcelins Sohn André fortgesetzt.
Die Firma Victor Anguenot et Cie ist auf flache Uhren nach der Roskopf-Bauweise spezialisiert. Sie verkauft unter ihrer Marke Régulateur Français (eingetragen am 12. Januar 1922) Uhren an Bergarbeiter, arbeitet aber vor allem für Großhändler, die ihre Marke oder die ihrer Kunden anbringen. Und sie exportiert auch selbst Uhren nach Algerien und Tunesien.
Victor lässt um 1925 neben seinem Haus eine Werkstatt und eine Garage bauen und um 1934 ein neues Gebäude in der Rue de la Perrière, wo er die Herstellung der Rohwerke unterbringt. Das Unternehmen beschäftigte 1930 immerhin 46 Personen, darunter 5 Schweizer!
Victor Anguenot verstirbt am 6. März 1938 in Villers-le-Lac im Alter von 63 Jahren. 1939 wird das Unternehmen in eine Sarl (GmbH) umgewandelt, deren Geschäftsführer sein Sohn René Anguenot (1902-1988) und sein Schwiegersohn Jules Monnin (1902-1976) sind. Der erste kümmert sich um die Herstellung der Uhrwerke, der zweite um die Fertigstellung der Uhren und deren Vermarktung. Die 19´´´-Kaliber werden zugunsten von nur drei Kalibern aufgegeben: das V. A. 37 mit 16´´´, das für Taschenuhren verwendet wird, eine flacheres 16´´´-Kaliber, ebenfalls für Taschenuhren, und das Kaliber V. A. 24 mit 10 1/2´´´, das von einem anderen Schwiegersohn Victors, Freddy (Alfred) Boillot, entwickelt wird.
Nach Kriegsende zählte die Firma nur noch ein Dutzend Mitarbeiter. In den 1960er Jahren gibt sie die Herstellung ihrer eigenen Uhrwerke auf und konzentriert sich auf die Herstellung von Armbanduhren mit Ankerhemmung, wobei sie französische und Schweizer Uhrwerke einsetzt. Zwei neue Geschäftsführer werden ernannt, als Anguenot und Monnin in den Ruhestand gehen: Freddy Boillot und Jacques Monnin.
1975 erreicht die Firma mit 218.000 verkauften Uhren und 74 Personen ihren Zenit. Im selben Jahr vergrößert die Firma nochmals die Produktionsfläche und richtet eine hochmoderne Fertigungsstraße ein. Als Boillot in den Ruhestand geht, kaufte Jacques Monnin das Geschäft und gründete mit seiner Frau Antoinette Boillon die Sarl Monnin-Anguenot. Angesichts der Konkurrenz ging es mit dem Geschäft langsam bergab, bis Jacques und Antoinette Monnin 1994 in den Ruhestand gehen. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigt das Unternehmen nur noch drei Mitarbeiter. Es wurde dann an das Unternehmen Cupillard-Rième aus Morteau verkauft.
Neben V. Anguenot gab es übrigens weitere Uhrenhersteller namens Anguenot in Villers-le-Lac, u. a. Ulysse Anguenot (Marke Curie), ein Onkel von Victor, und Anguenot Frères (Groupe Framelec, Marke Herma), deren Inhaber einer der Söhne von Ulysse war.
Die Uhrwerke von V. Anguenot
In verschiedenen Quellen konnte ich Hinweise auf sieben Uhrwerke von V. Anguenot finden:
Kaliber | Durch-messer | Merkmale | Quellen (1) |
V. A. 24 | 10 1/2´´´ | Unbekannt, bisher kein Nachweis der Existenz gefunden | [1] |
16´´´ 22/12 Roskopf (2) = 16´´´ H4,1 Roskopf (3) | 16 1/2´´´ (4) | Stiftanker, Roskopf-Bauweise, Kronenaufzug ohne Drücker | [2],[3] |
16´´´ 27/12 Roskopf = 16´´´ H5,1 Roskopf = V. A. 37 | 16 1/2´´´ | Stiftanker, Roskopf-Bauweise, Kronenaufzug ohne Drücker | [1], [2], [3], [4] |
16´´´ 22/12 Ancre | 16 1/2´´´ | Steinanker | [1], [3] |
18´´´ | 18´´´? | Unbekannt, bisher nur Ersatzteile gefunden | |
19“‘ H5,6 Roskopf = 19. 6 Roskopf | 19 1/2´´´ (4) | Stiftanker, Roskopf-Bauweise, Kronenaufzug mit Drücker | [3], [4] |
19“‘ H6,8 = 19.7 Roskopf | 19 1/2´´´ (4) | Stiftanker, Roskopf-Bauweise, Kronenaufzug mit Drücker | [3], [4] |
(1) Siehe Liste der Quellenangaben am Ende dieses Artikels
(2) 22/12: Höhe in französische Linien (1´´´ = 2,2558 mm). 22/12´´´ entsprechen 4,1 mm
(3) H4,1: Höhe in mm
(4) Obwohl die Kaliberbezeichnung 16´´´ bzw. 19´´´ lautet, hat das Werk einen Durchmesser von 16 1/2´´´ bzw. 19 1/2´´´
Werke von V. Anguenot konnte ich bisher nur in Taschenuhren der Marke Régulateur Français finden, die 1922 von Anguenot registriert wurde. Schauen wir uns nun zwei Werke von A. Anguenot an.
Anguenot 19´´´ H5,6 Roskopf
Die abgebildete Taschenuhr dürfte aus der Zeit um 1930 – 40 stammen. Leider fehlt der Sekundenzeiger. Sie besitzt ein einfaches verchromten Gehäuse mit gedrücktem Bodendeckel und hat einen Durchmesser von 51,4 mm.
Das Werk, ein Anguenot 19´´´ H5,6, ist ebenfalls von einfacher Bauweise. Die Unruh aus Messing lässt zunächst an eine Zylinderhemmung denken, tatsächlich hat das Werk eine Stiftankerhemmung.
Das Werk hat einen Kronenaufzug, zum Stellen der Uhrzeit muss seitlich ein kleiner Drücker betätigt werden. Es ist in Roskopf-Bauweise ausgeführt, das große Federhaus ragt also über die Werkmitte hinaus, sodass in der Mitte des Werkes das Minutenrad fehlt. Das Zeigerwerk wird daher auf der Zifferblattseite direkt vom Federhaus angetrieben. Typisch für Roskopf-Werke ist auch die Schlagzahl der Unruh von 17.280 A/h (Halbschwingungen pro Stunde).
Die nur sieben Lagersteine und eine Pfeilerbauweise bestätigen ebenfalls den Eindruck eines einfachen, kostengünstigen Werkes.
Interessant sind die zwei Schrauben im rechten Bild oben bei ca. 5 Uhr. Sie dienen dazu, die Eingriffstiefen der Hemmung (Ankerrad, Anker, Unruh) einzustellen, also mangelnde Präzision bei der Herstellung der Bauteile auszugleichen!
Anguenot 19´´´ H6,8 Roskopf
Dieses Werk ist weitgehend baugleich mit dem eben gezeigten, aber mit 6.8 mm etwas höher und die Zifferblattseite sieht etwas anders aus. Es hat keine Sekunde, ich vermute aber, dass es auch mit Sekunde erhältlich war.
Anguenot 16´´´ H5,1 Roskopf / V. A. 37
Auch die zweite Taschenuhr kommt mit einem Durchmesser von 48,4 mm im schlichten verchromten Gehäuse daher, sie trägt aber (früher einmal) leuchtende Zeiger und Ziffern. Zeitlich dürfte sie um 1940 – 50 einzuordnen sein.
Ein interessantes Detail verbirgt sich auf der Innenseite des Bodendeckels, nämlich ein moderneres Logo von V. Anguenot als das weiter oben gezeigte:
Etwas schöner dargestellt:
Das Werk, ein Anguenot 16´´´ H5.1 Roskopf, auch als Kaliber V. A. 37 bezeichnet, unterscheidet sich optisch nur wenig vom oben gezeigten Werk. Natürlich ist das Werk mit einem Durchmesser von 37,0 deutlich kleiner als das oben gezeigte Werk mit 44,2 mm.
Auch technisch sind die Unterschiede gering. Der Kronenaufzug mit Drücker wurde durch einen zeitgemäßen Kronenaufzug ersetzt, bei dem zum Stellen der Zeiger die Krone gezogen wird. Auch die zwei Schrauben zum Justieren der Eingriffstiefe der Hemmung fehlen, die Präzision bei der Bauteileherstellung scheint sich also verbessert zu haben. Außerdem hat das Werk neun Steine, einer davon ist die Ellipse der Unruh, was für Stiftankerwerke eher ungewöhnlich ist, da sie bei diesen meist aus einem Metallstift besteht.
Dieses Werk scheint es auch mit einer anderen Klinkenform zu geben:
Anguenot 16´´´ 22/12 Ancre
Von diesem Werk konnte ich bisher nur ein Bild im Cétéhor-Katalog von 1946 [3] finden:
Da ich hier nur wenige Werke von Anguenot zeigen kann, würde es mich sehr freuen, wenn einer meiner Leser ein weiteres Werk beitragen könnte, das ich hier dann gerne mit aufnehme. Insbesondere würde es mich interessieren, ob es das Werk V. A. 24 wirklich gibt!
Quellen
[1] Usine d’horlogerie (usine de montres et d’ébauches de montre) Victor Anguenot et Cie ⋅ Patrimoine en Bourgogne-Franche-Comté (bourgognefranchecomte.fr)[2] Rudolf Flume: Flume-Kleinuhr-Schlüssel K1, 1958, im Teil von 1947
[3] Cétéhor: Repertoire des Calibres de Montres Français, 1946
[4] Georg Jacob: Werk-Erkennung Gesamtausgabe, 1949
[5] Engelkemper: Der Engelkemper Werk-Spiegel Bildband, 1966
[6] François Victor ANGUENOT : généalogie par florineadb – Geneanet