Gute 120 Jahre später bin ich bei einer Online-Auktion über folgende unscheinbare Taschenuhr gestolpert, bei deren Werk die besondere Brückenform, eine eingravierte Libelle sowie eine Patentnummer meine Aufmerksamkeit geweckt haben:
Das Schweizer Patent CH6335 wurde am 25.02.1893 an J. Steinleitner aus Würzburg für ein Verbessertes Uhrwerk erteilt.
Die Zeichnung des Werkes in der Patenschrift sehen dem abgebildeten Werk doch sehr ähnlich:
Wer war dieser J. Steinleitner aus Würzburg? Leider konnte ich in den mir zugänglichen Archiven zunächst nur wenige Informationen finden. Ein erster Hinweis findet sich im Buch Meister der Uhrmacherkunst von Abeler:
Steinleitner & Schott, Würzburg, Inh: C. Steinleitner, Jul. Mech., Jos. Steinleitner (ließ sich am 25.2.1893 das Patent 6335 auf ein verbessertes Uhrwerk erteilen), Fabrikation der Remontoir-Uhr „Libelle“ (erw. 1895)
Nach und nach fand ich dann weitere Erwähnungen von Steinleitner & Schott. Zunächst eine Anzeige von 1892, also aus der Zeit vor dem erteilten Patent:
Die Firma war also 1872 gegründet wurden.Dann die Veröffentlichung des Patentes im Schweizerischen Handelsamtsblatt:
1894 erfolgte die Registrierung der Marke Libelle durch Steinleitner und Schott: Zwanzig Jahre später wurde die Marke dann wieder gelöscht: Eine Anzeige von 1894, in der die Firma als Vertreter für Schweizer Uhren der Marke Bachschmid aufgeführt ist: Und 1895 tatsächlich eine Werbung für die Taschenuhr der Marke Libelle: Auf das Werk wurde also nicht nur das Schweizer Patent CH 6335 angmeldet, sondern im Deutschen Reich auch ein Gebrauchsmuster (D.R.G.M.) Nummer 12073. Das Gebrauchsmuster ist so etwas wie der kleine Bruder eines Patentes. Es scheint auch keine weiteren Patente von J. Steinleitner zu geben.Neben Uhren wurde offensichtlich auch mit Furnituren (Uhrenteile), Werkzeugen und Schmuck gehandelt:
1908 wurde dann der Bereich Furnituren an den langjährigen Mitarbeiter Emil Schlientz abgegeben:
Im Uhrmacher-Adressbuch von 1925 wird Steinleiter und Schott als Uhrengroßhandel aufgeführt: Und auch 1943 ist die Firma noch im Uhrengroßhandel tätig: Die Adressen wechseln immer mal wieder, es scheint also einige Umzüge innerhalb Würzburgs gegeben zu haben:- Domerschulgasse 5 (ab 1945 Domerschulstraße 5; Domschulstraße ist ein Schreibfehler) (erwähnt 1893 und 1925)
- Bahnhofstraße 5 – 7 (Zeitpunkt unbekannt, vermutlich vor/um 1908)
- Dominikanerstraße 10 (Zeitpunkt unbekannt, vor Bahnhofstraße 1/2)
- Bahnhofstraße 1 /2 (erwähnt 1938, 1943)
- Kaiserplatz 1 (Zeitpunkt unbekannt, Quelle: Lexikon der deutschen Uhrenindustrie 1850 – 1980)
- Zeller Straße 43 (Zeitpunkt unbekannt, Quelle: firmenlexikon.de)
Möglicherweise hatte die Firma für die unterschiedlichen Geschäftsbereiche auch mehrere Adressen zu selben Zeit.
Tatsächliche existierte Steinleitner & Schott bis Anfang der 2000er-Jahre. 2001 ging sie in die Insolvenz und wurde dann 2002 gelöscht:
Über Josef Steinleitner als Mensch konnte ich leider fast keine Informationen finden. Lediglich die, dass er 1926 aus dem Unternehmen ausgeschieden ist: Hat Steinleitner die Werke mit der Bezeichnung Libelle selbst gebaut? Möglich, ich vermute aber, dass er sie in der Schweiz hat bauen lassen und sie nach Deutschland importiert hat. Die Schweizer Silberpunzen im Deckel einer der zwei mir vorliegenden Taschenuhren sowie die Patentanmeldung in der Schweiz sprechen zumindest dafür. Einen kleinen Hinweis könnte eine Ergänzung zur Patentanmeldung liefern, die 1894 im Schweizerischen Handelsamtsblatt veröffentlicht wurde: P. Clémençon & Co. aus Courroux in der Schweiz hat also eine Lizenz auf das Patent CH6335 erhalten. Es gab um 1900 einen Charles-Auguste Clémençon in Courroux, der Uhrmacher war. P. Clémençon war vielleicht ein naher Verwandter. Mehr konnte ich darüber nicht in Erfahrung bringen. Möglicherweise hat P. Clémençon die Werke zusammengebaut und in Gehäuse eingebaut.Schauen wir uns das Werk noch etwas genauer an. Es hat einen Durchmesser von 18 1/2“‘ (= 41,9 mm), eine Höhe von 6,9 mm, eine für die damalige Zeit typische Zylinderhemmung, 10 Steine und einen Kupplungsaufzug mit Drücker. Soweit also ein klassischer Vertreter seiner Ära.
Etwas später konnte ich ein zweites Libelle-Werk erwerben, dass mit 18 1/4“‘ (41,0 mm) minimal kleiner als das erste Werk ist. Es hat nur 6 Steine und weist ein paar kleine konstruktive Abweichungen zum ersten Werk auf:
Möglicherweise ist dieses zweite Werk etwas älter als das erste.
Um was genau geht es nun in der Patentschrift?
Am Ende der Patentschrift sind sieben Patentansprüche aufgeführt:
Ein Uhrwerk, gekennzeichnet durch:
1. Die eigenartige Form des Mittelsteges D
Mit Mittelsteg ist hier die Räderwerkbrücke gemeint. Komisch, dass man alleine auf die Form einen Patentanspruch stellen konnte.
2. Den aus zwei übereinandergreifenden Teilen E und F bestehenden Federhaussteg
Normalerweise umfasst die Federhausbrücke sowohl das Kronrad als auch das Sperrrad. Hier besteht die Brücke aber aus zwei Teilen, damit die Feder im Federhaus bei Bedarf einfacher gewechselt werden kann. Keine Revolution im Werkebau, aber ganz praktisch.
3. Den mit Stiel g und Kerbe g1 versehenen Sperrkegel G
4. Die zur Einstellung des Sperrkegels G in einem Loche f1 des Steges F seitlich eingreifende Feder H
Die Punkte 3 und 4 gehören zusammen und beschreiben eine Variante der Klinke – so sagt man heute zum Sperrkegel – und der Klinkenfeder. Die Klinke wird nicht festgeschraubt, sondern einfach gesteckt. Gehalten wird sie von einer seitlich befestigten Feder, die gleichzeitig als Klinkenfeder wirkt, also dafür sorgt, dass die Klinke in Richtung Sperrrad gedrückt wird. Dreht man die Klinke manuell weit genug zurück, greift die Feder nicht mehr in die Kerbe der Klinke. Die Klinke kann dann ganz einfach nach oben entnommen werden. Eine wirklich nützliche Erfindung!
5. Das wie beschrieben geformte und befestigte Coqueret K
Das Coqueret ist die Deckplatte am Unruhkloben, auch Rückerplättchen genannt. Das Patent beschreibt die abgebildete Form dieser Deckplatte, die dazu dient, den Rücker (J) mit Hilfe der Platte mit nur einer Schraube am Unruhkloben (L) zu befestigen. Diese Konstruktion erleichtert bei einem Bruch des Decksteins die Reparatur, da Unruh und Spirale dazu nicht entfernt werden müssen.
Eine hübsche Idee, aber leider wurde dieser Teil des Patentes beim beiden oben gezeigten Werken nicht umgesetzt.
6. Den in Fig. 2 dargestellten Steg A
Hier ist die Form der Wechselradbrücke gemeint. Damals wurden viele Werke ohne Wechselradbrücke produziert, sodass das Wechselrad nicht befestigt war. Was an der hier gezeigten Wechselradbrücke aber so besonders sein soll, ist mir nicht klar. Die Form der Wechselradbrücke ist bei beiden gezeigten Werken auch etwas anders als die in der Patentschrift gezeigte.
7. Den in Fig. 3 dargestellten Steg B
Dieser sorgt einfach dafür, dass die Aufzugswelle festgehalten wird. Eine damals typische Konstruktion, heute würde man dafür einen Winkelhebel verwenden. Auch hier ist mir ist nicht klar, was an dieser Variante besonders sein soll, zumal die Patentschrift in keiner Weise darauf eingeht. Beim gezeigten Werk sieht diese Befestigung allerdings anders aus als in der Patentschrift abgebildet.
Sehr erfolgreich scheint der Vertrieb des Werkes der Marke Libelle bzw. der zugehörigen Uhren nicht gewesen sein. Mir sind bisher lediglich drei Exemplare davon begegnet, zwei davon befinden sich mittlerweile bei mir. Bei keinem davon trägt das Zifferblatt eine Aufschrift.
Guten Tag Herr Kelz,
mit Freude habe ich Ihren Artikel gelesen und möchte gerne die Geschichte von meiner Taschenuhr der Marke Libelle erzählen.
Die Uhr habe ich von meinem Großvater geschenkt bekommen und stammt von meinem Ur-Ur-Großvater, der zu seiner Meisterprüfung, im Jahre 1897, diese Taschenuhr geschenkt bekommen hat.
Die Taschenuhr besitzt 6 Rubinlager und ist die Nummer 2669. Im Gehäuse findet man die Libelle als Markenzeichen und der umrahmte Silbergehalt 0.800. Desweiteren findet man eine persönliche Gravur mit seinem Namen sowie den Emblemen Hammer und Kelle, da er Gipsermeister war.
Das Zifferblatt weist römische Zahlen auf und die Zeiger sind aus Rotgold.
Da die Taschenuhr auch im ersten Weltkrieg mit dabei war, gab es eine zusätzliche, olivgrüne Schutzhülle, welche die Taschenuhr vor Beschädigungen geschützt hat. Die Uhr funktioniert hervorragend und wird immer wieder aufgezogen.
Falls Sie Bilder von der Uhr sehen wollen, kann ich Ihnen gerne welche zur Verfügung stellen.
Freundliche Grüße
Hallo Andreas Kelz,
mit Interesse lese ich den Beitrag.
Ich habe seit kurzem einen Planteur mit orig. Etui in meinem Besitz,
Das Etui ist schon stärker beschädigt,
aber am Boden ist ein großer Papieraufkleber in stilisierter Siegelmarke auf dem steht:
Steinleitner & Scholl – Mergentheim
das ist wohl das heutige Bad Mergentheim.
sollten Sie ein Bild davon wollen – gerne.
Vielleicht ist es für Sie und Ihre Forschungen interessant.
viele Grüße
Herbert Grabowski
Habe eine Taschenuhr die ich nicht zuordnen kann
Ist mit einer Libelle Halbmond Krone und mehr gepunzt
Möchte gerne mehr erfahren
Alter, Herkunft, Material
Hallo Harmut,
wenn sich die Libelle auf dem Werk befindet, dürfte dieses von Steinleitner & Schott stammen. Halbmond und Krone befindet sich vermutlich im Deckel des Gehäuses. Sie sind der deutsches Silberstempel für Silber mit einem Mindestgehalt von 800/1000. Dementsprechend findet sich im Deckel wohl auch noch ein Stempel, der den exakten Silbergehalt angibt, etwa in der Form 0,800 oder 800. Es spricht also einiges dafür, dass die Uhr inkl. Werk in Deutschland gefertigt wurde. Und das ganz grob um 1900.
Viele Punzen auf Uhrwerken und Uhren lassen sich finden: http://www.mikrolisk.de