Die Gangreserveanzeige / Power Reserve – so funktioniert sie

Gangreserveanzeigen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit bei Uhrenliebhabern. Gerade bei Automatikuhren sind sie sinnvoll, da es hier ja im Gegensatz zum Handaufzugswerk keinen spürbaren Anschlag beim Drehen der Krone gibt. Woher weiß man also, ob die tägliche Bewegung am Arm überhaupt ausreicht, um das Werk voll aufzuziehen? Die Gangreserveanzeige schafft hier Gewissheit. Und hübsch anzusehen ist sie meist auch noch!

Ein netter Uhrenfreund hat mir folgendes Werk zu Forschungszwecken überlassen:

Wer hofft, dass sich hinter dem Osco-Zifferblatt ein deutsches Werk befindet, wird leider enttäuscht. Es handelt sich um ein chinesisches Guangzhou aus der DG-38xx-Familie mit Gangreserveanzeige. Diese schauen wir uns hier mal im Detail an.

Was sollte an einer Gangreserveanzeige schon kompliziert sein? Koppeln wir doch einfach über ein paar Zwischenräder einen Zeiger an das Federhaus oder an den Federhauskern. Beim Aufzug dreht sich der Zeiger in eine Richtung, beim Ablaufen der Feder in die andere. Ganz einfach? Leider nicht, da gibt es nämlich zwei kleine Probleme:

1.
Beim Ablaufen der Feder dreht sich das Federhaus im selben Drehsinn wie beim Aufziehen der Federkern und leider nicht in entgegengesetzter Richtung. Das kann man sich sehr schön anhand eines geöffneten Federhauses veranschaulichen:

Beide drehen sich also immer in dieselbe Richtung und niemals rückwärts. Beim Federkern ist das unmittelbar sichtbar. Auf diesem ist ja das Sperrrad montiert, das durch die Sperrklinke darin gehindert wird, rückwärts zu drehen.

Der entscheidende Ansatz zur Lösung dieses Problems liegt darin, zu erkennen, dass wir weder den Aufzug noch das Ablaufen getrennt betrachten dürfen, sondern die Differenz zwischen Aufzugsgeschwindigkeit (vAUF) und Ablaufgeschwindigkeit (vAB):

  • Ist vAUF größer als vAB, steigt die Gangreserve, der Zeiger der Gangreserveanzeige bewegt sich nach rechts
  • Ist vAUF kleiner als vAB, sinkt die Gangreserve, der Zeiger der Gangreserveanzeige bewegt sich nach links
  • Bei vAUF = vAB bleibt die Gangreserve konstant, der Zeiger der Gangreserveanzeige bewegt sich also nicht

Wir suchen also einen Mechanismus, der die Differenz zwischen vAUF am Federkern und vAB am Federhaus auswerten kann. Das Wort Differenz merken wir uns mal für später…

2.
Im Gegensatz zum Handaufzug, dreht sich die Feder beim Automatikaufzug immer weiter und hat keinen Anschlag. Hier benötigen wir also einen Anschlag, der den Weg des Gangreservezeigers begrenzt und außerdem dafür sorgt, dass Aufzug und Gangreserveanzeige entkoppelt werden.

Dann schauen wir mal, wie das hier bei diesem Werk gelöst wurde. Die hier gezeigte Variante ist allerdings nur eine von vielen möglichen Spielarten.

Zuerst entfernen wir die Zeiger und das Zifferblatt:

Rot markiert ist der Zapfen, der den Zeiger für die Gangreserveranzeige trägt. Weiter geht es nach dem Abschrauben der Deckplatte:

Aha, viele Räder und Triebe. Hier sieht man auch schon, dass die Datumanzeige noch eine Ebene tiefer liegt und die Lupe gleich werkseitig eingebaut ist. Also entfernen wir zunächst mal alles, was zur (springenden) GMT-Anzeige gehört und nichts mit der Gangreserveanzeige zu tun hat:

Um alle an der Gangreserveanzeige beteiligten Räder und Triebe sehen zu können, werden jetzt die zwei mit G und D bezeichneten Räder entfernt und neben das Werk gelegt:

Rechts unten liegt die Lösung der Aufgabe, die oben beschriebene Differenz zwischen vAUF und vAB auszuwerten: ein Differentialgetriebe. Bevor wir uns dieses näher anschauen, beschäftigen wir uns kurz mit den vielen anderen Rädern.

Zifferblattseitig sind sowohl auf dem Federhaus als auch auf dem Federkern jeweils ein Trieb befestigt (im Bild mit Federhaus bzw. Federkern beschriftet). Vom Federkern geht es über 5 Zwischenräder/-triebe (grüne Linie) zu einem der zwei kleinen Räder am Differentialgetriebe. Entsprechend geht es vom Federhaus über 4 Zwischenräder/-triebe (blaue Linie) zum zweiten der kleinen Räder am Differentialgetriebe.

Die ganzen Zwischenräder und -triebe dienen zum einen dazu, die nötige Untersetzung zu erreichen (der Federkern z. B. dreht sich bis zum Vollaufzug ja einige Male um 360 Grad, die Gangreserveanzeige bewegt sich aber nur in einem Bereich von 0 bis ca. 135 Grad). Zum anderen sorgen sie dafür, dass die Gangreserveanzeige an der gewünschten Stelle auf dem Zifferblatt angezeigt wird.

Wir hatten oben ja gesehen, dass Federhaus und Federkern sich im gleichen Drehsinn bewegen, also beide nach rechts oder links. Um am Differentialgetriebe eine Differenz auswerten zu können, müssen wir für eine der zwei Bewegungen die Drehrichtung umkehren. Da jedes Rad die Drehrichtung umdreht, unterscheidet sich hier die Anzahl der Zwischenstationen (5 versus 4) um eins, um dies zu erreichen.

Der Rest ist ganz einfach:
Drehen sich am Differentialgetriebe die kleinen aufgepressten Räder mit derselben Geschwindigkeit in entgegengesetzte Drehrichtungen, dann bewegt sich das große Rad gar nicht (vAUF = vAB!). Sind die Drehgeschwindigkeiten verschieden, wird sich das große Rad nach links bzw. rechts drehen. Dieses Rad greift wiederum direkt in das andere große Rad ein, das den Zeiger für die Gangreserveanzeige trägt.

Wer gerne mal ein Differentialgetriebe in der Hand halten und seine Funktionsweise studieren will, dem sei dieses Teil von Lego Technik ans Herz gelegt:

 Und auch dieser alte Film aus der Zeit um 1930 ist sehr interessant:

[Quelle: Youtube.com]

Es gibt übrigens einen wesentlichen Unterschied zwischen den Differentialgetrieben im Auto und hier bei der Gangreserveanzeige:
Beim Auto hat das Getriebe einen Eingang (vom Antrieb) und zwei Ausgänge (Rad rechts, Rad links), bei der Gangreserveanzeige dagegen zwei Eingänge (Federkern, Federhaus) und einen Ausgang (Anzeige).

Jetzt müssen wir uns nur noch um das oben beschriebene Problem des Anschlags und des Entkoppelns beim Automatikaufzug kümmern. Dazu nochmal ein Blick auf das Bild von oben:

Das große Rad des Differentialgetriebes kann sich nicht um 360 Grad drehen, da sich die kleinen Räder in einer Aussparung der darunterliegenden Platine bewegen. Diese ist aber begrenzt (rote Striche). Hier gibt es also sowohl einen unteren als auch einen oberen Anschlag, der den Weg des Gangreservezeigers beschränkt. Am oberen Anschlag sorgt dann die mit R beschriftete Rutschkopplung dafür, dass sich der Federkern beliebig weiter drehen kann, der Gangreservezeiger aber am Vollanschlag stehen bleibt.

Zum Schluss noch einen Blick auf die nächste Ebene des Werkes:

Man sieht hier sehr schön, dass Räder der Gangreserveanzeige auf zwei Werkebenen angeordnet wurden, um alles unterzubringen. Für die Gangreserveanzeige sind immerhin 14 Räder bzw. Triebe nötig!

So, das wars. Vielen Dank an alle, die bis hier durchgehalten haben. Technische Details sind ja nicht unbedingt leichte Kost…

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