Ein wenig Geschichte
Nach seiner Ausbildung zum Uhrmacher und Zwischenstationen als Geselle in Frankfurt am Main, La Chaux-de-Fonds, Dresden, München, Berlin und Wien eröffnet Gustav Becker 1847 in Freiburg in Schlesien ein Uhrengeschäft. Heute heißt die Stadt Świebodzice und gehört zu Polen.
Bald fing er auch an, nicht nur Uhren zu verkaufen, sondern auch Pendeluhren nach Wiener Vorbild herzustellen. Die Firma wuchs stetig und bereits 1852 erlangt sie durch den Gewinn einer Goldmedaille (Medaille d’Or) bei der Schlesischen Industrieausstellung größere Bekanntheit. Nur zwei Jahre später erhielt die Firma Großaufträge der Königlichen Post und des Schlesien Telegrafenamts.Das Sortiment an Großuhren wurde stetig ausgebaut und sowohl hochwertige Uhrwerke als auch Gehäuse in der eigenen Fabrik hergestellt. 1875 wurden schon mehr als 100.000 Uhren pro Jahr hergestellt und 1892 schließlich die millionste Uhr produziert.
Der Firmengründer verstarb 1885, sein Sohn führte die Firma weiter. Der ruinöse Konkurrenzkampf unter den Uhrenherstellern führte 1899 zu einem Zusammenschluss mit anderen Unternehmen unter dem Namen Vereinigte Freiburger Uhrenfabriken Aktiengesellschaft vormals Gustav Becker. Im Jahre 1926 schloss sich diese wiederum mit der Hamburg-Amerikanischen Uhrenfabrik zu einer Interessengemeinschaft zusammen. Beide Firmen fusionierten dann 1930 mit der Firma Junghans unter dem Namen Uhrenfabriken Gebrüder Junghans AG. Im Krisenjahr 1932 musste Junghans die Freiburger Betriebe schließlich stillzulegen, Uhren der Marke Gustav Becker wurden aber wohl noch bis zum Zweiten Weltkrieg hergestellt.
Taschenuhren von Gustav Becker
Gustav Becker hatte also ein regelrechtes Großuhren-Imperium in Schlesien aufgebaut. Taschenuhren waren eigentlich gar nicht das Metier der Firma. Als Begründer der schlesischen Taschenuhren-Industrie gelten vielmehr die Gebrüder Eppner, zunächst in Lähn, dann in Silberberg. Um sie soll es hier aber nicht gehen.
Der älteste Hinweis auf Taschenuhren von Gustav Becker findet sich auf einem Notgeldschein der Stadt Freiburg in Schlesien aus dem Jahr 1921. In den Schwingen des Adlers ist „DAS NEUESTE“ zu lesen. Abgebildet sind außerdem ein Schornstein sowie eine Taschenuhr, beide mit dem Logo von Gustav Becker. Mit damals sechs Betrieben sowie zahlreichen Beamten- und Arbeiterwohnhäusern hatte die Firma wohl einige Bedeutung für die Stadt.
Genau 100 Jahre später, also 2021, gab es übrigens einen 0 Euro Souvenir-Schein aus Polen zum Andenken an Gustav Becker. Auf diesem ist allerdings lediglich eine Wanduhr abgebildet, keine Taschenuhr.
Ebenfalls 1921 hat Gustav Becker bzw. die Vereinigten Freiburger Uhrenfabriken gleich mehrere Gebrauchsmuster für bestimmte Funktionalitäten von Taschenuhrwerken angemeldet:
- Aufzieh- und Stellvorrichtung mit Wippe für Taschenuhren
- Taschenuhrgesperre
- Stiftankergang für Taschenuhren
- DE348894 Stiftankergang für Taschenuhren
- DE380685 Aufzieh- und Stellvorrichtung für Taschenuhren
Im Katalog Nr. 8 der Vereinigten Freiburger Uhrenfabriken aus dem Jahr 1925 sind das folgende Uhrwerk und eine Taschenuhr abgebildet:
Das Werk gab es also in vier Varianten:
- G. B. No. 1: (Stift)anker-Hemmung, 4 Steine
- G. B. No. 2: Steinanker-Hemmung, 7 Steine
- G. B. No. 3: Steinanker-Hemmung, 9 Steine
- G. B. No. 4: Steinanker-Hemmung, 15 Steine
Nach längerer Suche konnte ich das folgende Exemplar einer Taschenuhr von Gustav Becker ergattern:
Sie hat einen Durchmesser von knapp 50 mm und trägt keine Markenbezeichnung auf dem Zifferblatt. Dafür aber das Logo von Gustav Becker auf dem Staubdeckel.
Die Uhr beherbergt eine Werk G. B. No. 2, also die Variante mit Steinankerhemmung und sieben Steinen:
Dieses hat einen Durchmesser von 43,5 mm bzw. etwa 19 1/4´´´ (französische Linien) und eine Höhe von 6,4 mm. Besonders auffällig ist die Form der 3/4-Platine, die ebenfalls das Logo von Becker trägt. Die monometallische Schraubenunruh hat eine flache Spirale und schwingt mit 18.000 A/h (Halbschwingungen pro Stunde). Auf der Zifferblattseite befindet sich ein Wippenaufzug und das Gesperr.
Der Aufbau des Werkes ist ganz klassisch, wie das folgende Bild zeigt:
Ein normales Räderwerk, bei dem der Kraftfluss vom Federhaus über das Minutenrad, das Kleinbodenrad und das Sekundenrad zum Ankerrad verläuft. Das dunkle Teil, das links von der Aufzugswelle bis fast in die Mitte des Werkes verläuft, dient dazu, die Wippe auf der Zifferblattseite beim Ziehen der Krone so zu verschieben, dass die Zeiger gestellt werden können.
Zum Schluss noch ein Detailausschnitt der Hemmung:
Das Interessante daran ist, dass beim G. B. No. 1, also der Werkvariante mit Stiftankerhemmung, genau derselbe Aufbau der Hemmung zum Einsatz kommt. Bei der gezeigten Steinankerhemmung befindet sich die Ankerbrücke (im Bild das Teil mit den zwei Schrauben) unterhalb der Unruh, bei vielen Taschenuhr-Stiftankerwerken dagegen darüber.
Die Gustav Becker-Taschenuhren wurden wohl nur wenige Jahre hergestellt und waren vermutlich wirtschaftlich kein großer Erfolgt. Entsprechend selten sind sie heute zu finden.