ORA, OC, Lings und 20+ weitere geheimnisvolle Uhrenmarken

 

Heute geht es um einige Marken von Uhren und Uhrwerken, über deren Geschichte fast nichts bekannt ist, die aber alle zusammenhängen. Der Dreh- und Angelpunkt ist hierbei die Marke ORA. Beginnen wir also mit ihr!
Dieses Werk war meine erste Begegnung mit der Marke ORA:

ORA 234

Leider hatte ich keine ganze Uhr dazu, sondern nur ein Zifferblatt mit der Aufschrift SONIC und ANCRE A G.

Neben dem Ankerrad mit Co 234 punziert, ließ sich das Werk im Flume-Werksucher von 1962 als ORA 234 identifizieren. Auf den ersten Blick ein Werk guter Qualität mit einem Durchmesser von 11 1/2´´´ (französische Linien, ca. 25,9 mm), kleiner Sekunde, verdecktem Gesperr und 17 Steinen. Auf den zweiten Blick ein wenig mehr Schein als Sein, da es sich um ein einfaches Stiftankerwerk in Pfeilerbauweise handelt. Die Aufschrift ANCRE A G auf dem Zifferblatt bedeutet übrigens Ancre à Goupille, also Stiftanker!

ORA 234 Pfeilerbauweise

Gut, aber welcher Hersteller steckt hinter der Marke ORA? Ein Blick in das Markenverzeichnis von Mikrolisk liefert gleich sieben mögliche Hersteller. Drei aus der Schweiz, zwei aus Deutschland und zwei aus Italien. Der wahrscheinlichste schien mir der Schweizer Hersteller Era Watch Co. / C. Ruefli-Flury & Cie zu sein, da er laut Mikrolisk auch Werke hergestellt hat. Weder auf dem Werk noch auf dem Zifferblatt stand aber etwas von SWISS MADE. Das machte mich stutzig, aber ich bliebt zunächst mal bei der Theorie des Schweizer Herstellers.

Sehr viel später stellte jemand im Uhrforum eine teilweise durchsichtige Cocktailuhr der Marke Modina vor und bat um Identifizierung des Werkes.

MODINA-Cocktailuhr, vermutlich um 1955
ORA 235

Das Werk ließ sich als ORA 235 identifizieren. Mit 10 1/2´´´ etwas kleiner als das ORA 234, aber ebenfalls ein Stiftankerwerk mit 17 Steinen. In diesem Fall auch noch mit einer Pseudo-Schraubenunruh, deren Schrauben nur gefräst sind. Zum Regulieren lässt sich da also nichts schrauben! Dieses Werk ist ebenfalls neben dem Anker punziert, hier mit Co 235:

Wofür steht nun das Co? Wohl kaum für Company, das wäre banal. O für ORA wäre plausibel, aber das C? Eine Recherche in etwa 20 Werksuchern, Katalogen und Verzeichnissen lieferte folgende Erkenntnisse:

  • O. C. = OC = C. O. = CO = ORA
  • In Unterlagen, die nur Schweizer Werke beinhalten, sind nie Werke von OC/CO/ORA verzeichnet

Auch bei der Modina-Uhr mit dem ORA 235 haben weder das Werk noch das Zifferblatt eine Aufschrift SWISS MADE. Also vielleicht doch kein Schweizer Hersteller? Ich wurde wieder neugierig und begann intensiver zu recherchieren. Dabei stieß ich in einem noch jungen italienischen Uhrforum namens AISOR auf diese Anzeige der Società d’Orologeria ORA di Vogt & Co aus Como in Italien:

[Quelle: https://www.aisor.it/forum/viewtopic.php?f=121&t=4582 (Anmeldung erforderlich)]
Die Firma war auch bei Mikrolisk gleich zwei Mal bei der Marke ORA aufgeführt. In der Anzeige stand nun, dass sie fantasievolle Roskopfuhren in großer Stückzahl produzieren. Das passt zur Cocktailuhr und zu den Stiftankerwerken, da Roskopfuhren meist Stiftanker haben. Ein erstes Indiz für einen italienischen Hersteller der ORA-Werke, aber leider noch kein Beweis!

Bei derselben Recherche fand ich auch eine weitere Verbindung zwischen OC, ORA und Italien in Form eines Gehäusedeckels ohne jede Information zur Uhr:

Auf der Rückseite steht, leider schlecht lesbar, OC CAL R7, auf der Innenseite ORA und MADE IN ITALY. Okay, also OC = ORA und ORA stammt aus Italien! Ich vermute, dass OC für ORA und Como steht.

Den endgültigen Beweis brachte dann eine Anzeige der Società d’Orologeria ORA di Vogt & Co im Indicateur Davoine, einem Schweizer (!) Verzeichnis von Uhrenherstellern, aus dem Jahr 1960:

Werbung im Indicateur Davoine von 1960

Da sind tatsächlich die Werke ORA 234 und 235 abgebildet! Dieselbe Anzeige hatte die Firma jedes Jahr von 1960 bis 1969 im Indicateur Davoine geschaltet. Und davor diese zwei:

Werbung im Indicateur Davoine von 1952
Werbung im Indicateur Davoine von 1955

1977 war dann zwar keine Anzeige mehr im Indicateur Davoine, aber immerhin noch ein Hinweis auf die Existenz der Firma:

Eintrag im Indicateur Davoine 1977

Für die Jahre zwischen 1970 und 1976 und nach 1977 stand mir leider kein Indicateur Davoine zur Verfügung. Die Società d’Orologeria ORA di Vogt & Co existierte also mindestens von 1952 bis 1977 und das ORA 235 mindestens ab 1955.

In einem von den italienischen Finanzbehörden 1930 herausgegebenen Verzeichnis der Steuerzahler ist in Como ein Uhrmacher namens Oscar Vogt verzeichnet. Vermutlichen haben er oder seine Nachfahren etwas mit der Società d’Orologeria ORA di Vogt & Co zu tun.

In den oben erwähnten Werksuchern und Katalogen konnte ich folgende Werke finden, die unter ORA, CO oder OC verzeichnet sind:

ORA-Uhrwerke

Kaliber Größe Merkmale Verifiziert
OC 1, OC1, 1, R1, 1 R, R 1, OC R1, OC R.1 (1)
8 3/4´´´ Stiftanker, 0/4 Steine, ohne Sekunde, Pfeilerbauweise, keine Stoßsicherung, Datum optional (ohne Schnellschaltung).
2 Varianten: à doigt (Unruh mit Finger), à plat. (Unruh mit Ellipse)
X
OC 7, OC7, R7, OC R 7, OC R7, OC R.7, OCR7, OCR.7 (2)
 10 1/2´´´ Stiftanker, 0/4 Steine, kleine Sekunde, Datum optional (ohne Schnellschaltung), keine Stoßsicherung, Pfeilerbauweise
2 Varianten: à doigt (Unruh mit Finger), à plat. (Unruh mit Ellipse)
OC 11 8 3/4´´´ Stiftanker, 4 Steine, ohne Sekunde, Pfeilerbauweise, keine Stoßsicherung.
Kleine Unterschiede zum OC 1, u.a.:
– Beweglicher statt fester Spiralklötzchenträger
– Im Bereich der Aufzugswelle Kunststoff-Block zwischen den Platinen
 X
13R, 13 R  ?    
OC 32, 32
 ?  
OC 71
12´´´ Stiftanker, 0 Steine, Zentralsekunde, optional mit Sekundenstopp als Pseudo-Chronograph, Datum optional (ohne Schnellschaltung), keine Stoßsicherung (3)  X
OC 120, 120, Co 120 12´´´ Stiftanker, 0 Steine, Zentralsekunde, optional mit Sekundenstopp als Pseudo-Chronograph, Datum optional (ohne Schnellschaltung), keine Stoßsicherung (3)  X
145, Co 145 5 1/4 x
11´´´
Formwerk, Stiftanker, Wippenaufzug
 (X)(4)
234, Co 234 11 1/2´´´ Stiftanker, kleine Sekunde, Datum optional (ohne Schnellschaltung), verdecktes Gesperr, Pfeilerbauweise, keine Stoßsicherung
X
235, Co 235
10 1/2´´´ Stiftanker, kleine Sekunde, Pseudo-Schraubenunruh, keine Stoßsicherung
X
236 10 1/2´´´ Steinanker, kleine Sekunde  (X)(4)
 ORA 13´´´ 13´´´ Nur bei Ronda verzeichnet, möglicherweise ein Irrtum   

(1) Die Werke sind meist mit OC 1 punziert, auf dem Bodendeckel der Uhr steht aber OC CAL R1
(2) Die Werke sind meist mit OC 7 punziert, auf dem Bodendeckel der Uhr steht aber OC CAL R7
(3) Unterschiede zwischen OC 71 und OC 120 nicht bekannt. Das OC 71 ist nirgendwo verzeichnet. Alle Uhren mit diesem Werk sind am Boden mit OC 120 punziert, neben der Unruh aber mit OC 71! Es gab kleine Modifikationen dieser Werke, die aber wohl im OC 71 und im OC 120 zu finden sind.
– Geänderte Winkelhebelfeder
Bereich um Umzugswelle: aus Metall bzw. aus Kunststoff
Zifferblattseite: U-förmiger Ausschnitt für Anker bzw. kein Ausschnitt
Unruhkloben mit zwei geschwungenen und einer geraden Seite, Unruhkloben mit einer geschwungenen und zwei geraden Seiten
(4) Kein ganzes Werk, lediglich Ersatzteile gefunden

Ersatzteil für ORA 145

Verifiziert bedeutet in der Tabelle oben, dass ich echte Werke zumindest auf Abbildungen gesehen habe. Einige Werke sind mit vielen verschiedenen Bezeichnungen verzeichnet, es dürfte sich aber immer um dasselbe Werk handeln. Bei den Kalibern 13R, OC32 und ORA 13´´´bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich existieren, da sie jeweils nur in wenigen Verzeichnissen zu finden sind.

ORA 145 im Engelkemper Werk-Spiegel 1967
ORA 234 mit Datum

Hat ORA diese Werke selbst hergestellt? Ich weiß es leider nicht! Normalerweise werben Hersteller damit, wenn sie ihre Werke selbst herstellen. Die ORA-Werke haben oft Ähnlichkeiten mit den Stiftankerwerken Schweizer Hersteller, etwa von Lapanouse/Rego. Ich konnte aber bisher kein ORA-Werk wirklich einem Schweizer Hersteller zuordnen. Die Werke scheinen also immerhin ORA-exklusiv zu sein. Möglicherweise wurden die ganzen Werke oder die Einzelteile aus der Schweiz bezogen. Das italienische Como liegt nur gut 5 km von der Schweizer Grenze entfernt!

ORA OC 1 mit Datum
ORA OC 1 ohne Datum
ORA OC 11
LINGS mit ORA OC 7, mit Datum, vermutlich um 1965
ORA OC 7 mit Datum
ORA OC 7 ohne Datum

Folgende Uhrenmarken konnte ich bisher finden, in denen ORA-Werke verbaut wurden:

  • Air Watch
Air Watch – Werk unbekannt
  • BRAÏLA
BRAÏLA mit OC 120
  • CENTREX
CENTREX mit OC 7, mit Datum
  • E. R. C.
E. R. C. mit OC 1
  • FILTA
FILTA mit OC 7
  • g
Uhr der Marke g mit OC 120 ohne Pseudo-Chrono-Funktion
  • GENIEVRE
    Hier taucht das OC auf einigen Uhren sogar als Logo auf dem Zifferblatt auf!
GENIEVRE mit ORA 234, mit Datum
  • GENIS
GENIS mit OC7, mit Datum
  • HITOS
HITOS mit OC 7
  • HORAX
HORAX mit OC 11
  • INDIANAPOLIS Sport
INDIANAPOLIS Sport mit OC 1
  • JONAS
JONAS mit OC 120 oder OC 71, mit Datum
  • LAWRENCE
    Auch hier taucht das OC als Logo auf dem Zifferblatt auf.
Lawrence mit ORA 234 und OC-Logo
  • LING
Ling mit OC 1
  • LINGS
Lings mit OC 120
  • LOGAN
LOGAN mit OC 7, mit Datum
  • LOINS
LOINS mit OC 7, mit Datum
  • MATIK
MATIK mit OC 7
  • MERIDIONAL
MERIDIONAL mit ORA 235
  • MODINA
MODINA mit ORA 235
  • NAVAL
NAVAL mit OC 7
  • NEIL
NEIL mit OC 7
  • RAYAM
RAYAM mit OC7, mit Datum
  • SEKOS
SEKOS mit OC 7
  • SONIC
SONIC mit ORA 234
  • TANIVAS
TANIVAS mit OC 7
  • ZEIH / ZE IH
ZE IH mit OC 7
  • ZEOIH
ZEOIH mit OC 120
  • ZHEUT
ZHEUT mit OC 7

Immerhin 28 verschiedene Marken und es gibt bestimmt noch mehr!

Neben dem OC tauchen immer wieder Kronen sowie ein Flügelmotiv (TANIVAS, ZE IH) auf den Zifferblättern auf. Das Flügelmotiv ist auch häufig auf dem Gehäuseboden diverser ORA-Uhren zu sehen.

Ich vermute, dass ORA die Uhren der meisten dieser Marken komplett selbst gebaut hat, eventuell auch im Auftrag anderer Firmen. Zumindest die Uhren mit der OC-Marke mit Kaliberangabe auf dem Bodendeckel dürften originär von ORA sein. Uhren der Marke E. R. C. gibt es allerdings auch mit Werken von Cattin.

Typische OC-Marken auf Bodendeckeln

Verbleiben wir noch etwas bei der Uhrenmarke LING bzw. LINGS. Bei ihnen ist die Differenz zwischen Schein und Sein häufig besonders groß. Auf dem Zifferblatt steht z. B. 21 PRIX, was beim unbedarften Käufer 21 Lagersteine suggerieren soll, von denen das Werk in den meisten Fällen aber keinen einzigen besitzt. Und unter der 6 steht SYSTEM, SWISS MODEL oder SWISS TYPE, genau da wo bei Schweizer Uhren häufig SWISS oder SWISS MADE steht:

Ein besonderes Highlight sind die Pseudo-Chronographen mit dem OC 120 bzw. OC 71.

Lings Pseudo-Chronograph, vermutlich um 1965 oder 1970

Sie besitzen zwei Drücker, mit denen der zentrale Sekundenzeiger gestoppt und wieder gestartet werden kann. Leider wird beim Stoppen einfach die Unruh und damit das ganze Werk angehalten! Außerdem haben sie einen Pseudo-Totalisator bei 9 Uhr der gegen den Uhrzeigersinn völlig sinnfrei mitläuft und sich alle vier Stunden im Kreis dreht. Es gibt auch Varianten mit einem zweiten Pseudo-Totalisator bei 3 Uhr, der sich alle sieben Stunden gegen den Uhrzeigersinn im Kreis dreht. Beide werden vom Stundenrad angetrieben. Auf den ersten Blick sieht die Uhr wie ein echter Chronograph aus, hat aber leider nichts mit einem solchen zu tun!

ORA OC 71 mit Pseudo-Chronograph und zwei Pseudo-Totalisatoren

Zu allem Überfluss wurden Lings-Uhren häufig als sogenanntes Autobahngold angeboten (siehe Info-Box unten). Ob ORA diese Uhren bereits mit Betrugsabsicht produziert hat oder Aufkäufer die Uhren entsprechend modifiziert haben, entzieht sich leider meiner Kenntnis.

Vorsicht Autobahngold
Als die Deutschen und andere Europäer in den 1960ern und 70ern in großer Anzahl zum Urlaub in den Süden fuhren, vor allem nach Italien, wurden sie häufig auf Autobahnraststätten oder Bahnhöfen von Einheimischen angesprochen und um Hilfe in einer vermeintlichen Notlage gebeten. Im Tausch gegen etwas Geld oder als Pfand boten sie dem Urlauber „echten“ Goldschmuck an, u. a. Armbänder, Ketten und Uhren. Dabei handelte es sich stets um minderwertige Ware, die höchstens dünn vergoldet war. Neben Fantasie-Stempeln, die an echte Goldstempel erinnern sollten, wurden häufig auch echte Goldstempel punziert.

Fantasie-Goldstempel CT 18750 auf einer Lings-Uhr

Zumindest im letzteren Fall handelt sich also um Goldfälschungen, die gutgläubigen Urlaubern angedreht wurden.

Gefälschter 18 Karat-Goldstempel auf Lings Pseudo-Chronograph

Der eine oder andere glaubt vielleicht auch heute noch, einen kleinen Schatz zu besitzen!

Falls Sie also eine Lings-Uhr mit Goldstempeln auf dem Gehäuseboden besitzen, können Sie sicher sein, eine Fälschung vor sich zu haben!

Sollte einer meiner Leser weitere Informationen zur Società d’Orologeria ORA di Vogt & Co aus Como in Italien haben, würde ich mich sehr über eine Nachricht freuen!

 

 

3 Gedanken zu „ORA, OC, Lings und 20+ weitere geheimnisvolle Uhrenmarken“

  1. Vielen Herzlichen Dank für Dein Arbeit
    ich bin besitzer einer TANIVAN mit der von Dir beschriebene Punze „O C Cal120“
    Die Funktion der uhr ist wie diese von Dir unter Lings Pseudo-Chronograph beschrieben.
    Aber die Uhr ist MODERNER von dem Design, ich schätze 1970/80’er

  2. Hallo Herr Kelz,
    wieder ein hervorragend recherchierter Bericht den ich mit großem Interesse gelesen habe.
    Vielen Dank für diesen und die vielen anderen.
    Gruß Uwe Böger

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